miércoles, enero 20, 2016

Ins Schwarze blicken// Mirar lo negro, eine Erzählung von Vanesa Guerra aus dem Buch La Sombra del animal Übersetzung von Kristin Lohmann



Ins Schwarze blicken// Mirar lo negro, eine Erzählung von Vanesa Guerra aus dem Buch La Sombra del animal Übersetzung von Kristin Lohmann






Ins Schwarze blicken
Vanesa Guerra 
Übersetzung von Kristin Lohmann




...luna lunera cascabelera
luna lunaria cascabelaria
luna lunosa cascabelosa ...


Was zwingt mich eigentlich zu denken, dass dieses Mädchen, das mit neugierigem, ins Unendliche gerichtetem Blick die von einem silbernen Teleskop herangeholte Ferne betrachtet, von einem Teleskop, das auf einem Stativ steht und zum Mond hin geöffnet ist und zum Polarstern und zu dem tiefschwarzen Zwischenraum, der ein Gestirn vom anderen trennt; was also zwingt mich, zu denken, zu glauben, dass dieses Mädchen hier neben seinem Vater, das mit unendlicher Neugierde den gigantischen nächtlichen Himmel betrachtet, dass ich das bin mit vier Jahren?
Sie ist eine andere und sie kennt mich nicht; ich kann mich an sie erinnern, verschwommen, wie im Halbschlaf, nur gehört sie nicht mehr zu mir, sie ist mir in meinem Inneren verloren gegangen, sie ist mir abhanden gekommen.
In jener Nacht oder in irgendeiner dieser Nächte, die alle wie diese eine Nacht zu sein schienen, war ich gerade eingeschlafen, als das Fenster in meinem Zimmer, das zu dem verwilderten, weit vom nächsten Gebäude entfernten und von alten Bäumen umgebenen Grundstück hinter unserem Haus hinausging, zu einem dunklen und undurchsichtigen Grundstück in einem westlichen Randbezirk von Buenos Aires, als dieses Fenster aufleuchtete. Das offene Fenster in gleißendes Licht getaucht, die Jalousie heruntergelassen; drückend die Stille im Haus zu dieser Stunde. Mit einem Mal verschaffte sich die Lichtflut Zutritt ins Zimmer und zerschnitt den Raum mit ihren Strahlen: ein geöffneter Fächer. Die Spalten der Jalousie ließen die Fülle an Monden und Gestirnen kaum bis zu der cremefarbenen Wand hindurchsickern, an der eine fröhliche Familie von Plüschfiguren hängt: die Telerins, alle sechs, der Größe nach geordnet, mit ihren schwarzen Pupillen auf weißem Grund, wahnsinnsweiße Augen. Im Morgengrauen tanzen die Telerins einen ungewissen Tanz über meinem lichtverschreckten Kopf unter der bebenden Decke, die mir der Schrecken bis zu den Ohren hochgezogen hat. Der Hilfeschrei an meine Eltern fand nicht aus mir heraus; unartikuliert, unterdrückt, wurde er zum stummen Zeugen eines Leuchtens, das immer intensiver wurde, um schließlich den ganzen Raum einzunehmen und seine Formen zu verschlingen. Es nahm dem Raum Wände, Bett, Fenstersims, Gegenstände, und etwas, das ich nicht näher benennen kann, bewegte sich langsam auf mich zu, etwas Schwarzes, das immer größer wurde, das das Licht schluckte, das dunkler wurde, etwas, das weder Augen hatte, noch Stimme, noch Hände.
Am nächsten Tag sprachen die Nachbarn vom Lichtblitz: ganz Morón hatte es gesehen; in den spärlich bebauten Gegenden kann alles Mögliche passieren; was sich hinter den Baumgruppen gegenüber der Häuser befindet, weiß man nie: Brachland, Militärgelände, Schützengräben hinter einer akkuraten Reihe von Pappeln. Das Licht war aber von der anderen Seite gekommen, mag ich gedacht haben in der Kindersprache, die eine andere ist als die, die ich heute spreche; dieses „andere“ war eher intuitiv gesagt, es streifte die Dichte des Wortes nur; das Licht kam aus dem Grundstück hinter meinem Haus, aus dem Grundstück und vom Himmel, der eigentlich nicht so dunkel sein dürfte, wie er aussieht, mag ich gedacht haben, während meine Großmutter mit der Ladenbesitzerin sprach, die uns immer noch Brot verkauft und Betty heißt und eine Zwergin ist. Sie steigt deshalb jedes Mal auf eine Fußbank, als würde sie hinken, um den Ladentisch zu erreichen und unter einem Wortschwall die immer gleichen Nachbarn zu bedienen, die das Gespräch erwidern, mit kühlen Händen ihre Geldbörsen an sich pressen, die Augen zusammenkneifen und mir flüchtig über den Kopf streichen, denn Betty oder Bettys Laden ist der einzige im Viertel, in diesem Viertel voller Schlamm und Pfützen und Sneaker der Marke Flecha, weiß und nach neuem Gummi riechend, die hüpfend den Schlaglöchern ausweichen, bis sie ums Eck sind.
Betty stellt die seltsamsten Päckchen mit Keksen und Schokoladenringen zusammen – Ringe wie die vom Saturn –, sie holt sie als Extra aus einer blauen, quadratischen Dose heraus, die mit einer kleinen, runden Glasscheibe versehen ist, wie ein Bullauge, wie bei einem Taucheranzug, durch das ich heimlich ihre kleinen, dicklichen, verspielten Hände beobachte, wie sie durch die Kekse fahren, und ich sehe, wie abgebrochene Stücke und beschädigte Ringe von den unruhigen Fingern beiseitegeschoben werden.
Betty, seltsames Mädchen: ein wenig zu groß, mit Augen weit oben auf der öligen Stirn, Augen, die sehr nah an den Ohren sitzen, weit auseinanderliegend, wie Mamá erklärt; und dann dieses breite und auf finstere Art kindliche, große Gesicht, der Ladentisch reicht ihr gerade bis zur Taille und Betty wiegt und wog damals die Keksberge auf weißlichem Papier ab, rau auf der einen Seite, aber glatt und glänzend auf der anderen, und wie mit einem Zaubertrick faltet sie das Papier mit ihrer kleinen, flinken Hand und macht ein Päckchen daraus, so wie man den Teig einer Empanada umschlägt. An jenem Tag schob sie das Päckchen behutsam an den Rand des Ladentischs, wo sich der Zinn so glatt anfühlt, man aber nicht mit dem Mund über ihn streichen darf. Diesmal streckte ich die Hände aus und bekam das Päckchen zu fassen; so schnell ich konnte, lief ich nach Hause, als ich sie da oben sah, riesenhaft, schwankend auf ihrer Fußbank, ich sah sie, ich sah Betty, wie sie schaute, wie sie den Mund verzog, die Nase rümpfte, wie ihre Augen sich zu Schlitzen verengten, wie ... sie mich ansah, aber sie grinste nur und stammelte etwas wie:
Du hast es doch bestimmt auch gesehen ...
Die kleinen Päckchen mit Bettys Ringen kannte ich schon, bevor ich meine erste Empanada aß. Und mit der Zeit wurde mir klar, dass Betty vom Saturn gekommen war.


Das Schwarze schaut, es schaut mich an, und ich schaue zurück. Wenn man zu Tode erschrickt, lässt sich die Zeit nicht mehr messen; ein haarsträubender Moment, er dauert ewig an, dein Körper manifestiert sich im Schmerz, den die Verlassenheit angesichts der Bedrohung auslöst. Die Bedrohung transformiert dich, sie macht dich zum Gegenstand, macht dich zur Beute.
Betty; das seltsame Mädchen
Betty ist eine Zwergin, kein Mädchen.
Betty ist keine Zwergin.
Betty ist auch kein Mädchen.
Betty stieg aus einem Raumschiff, so einem wie das, das damals kam.
Sie wird zuvor schon aus dem Raumschiff gestiegen sein, bevor ihr hierher gezogen seid ... ich habe aber immer schon hier gelebt, antwortete ich. Nein, davor warst du noch nicht auf der Welt, und nicht auf der Welt zu sein, ist etwas sehr Merkwürdiges, und hier im Viertel geschahen Dinge, bevor du auf die Welt gekommen bist; deshalb kam das Raumschiff früher und ließ Betty hier, da war ich bestimmt auch noch nicht auf der Welt, und jetzt suchen sie sie oder vielleicht suchen sie auch Kinder, die sie durch Zwergenkinder ersetzen wollen. Besser, wir machen die Fenster zu.
Bettys Hände sind so groß wie meine Hände, aber faltig; die Füße kaum größer, die Nägel gekrümmt, gelblich, undefiniert; immer ertappte mich ihr Blick, wenn ich ihren großen Zeh betrachtete, wie er aus der Sandale herausschaute. Der Zeh zeigt auf die Tür, wie ein Zeh, der vor seinem Fuß davonlaufen will.
Ein Geiselzeh, wies Carlitos mich hin, das einzig Menschliche an diesem Körper.
Carlitos war der Größte von uns. Er roch schlecht und war immer schmutzig, muffig. Im Grundstück hinter seinem Haus gab es einen Hühnerstall und Doña Rosa brachte die Hühner um und aß sie; ein breites Messer hatte sie, mit gekrümmter Klinge. Einmal hob die kleine, dicke Frau das gekrümmte, gezahnte Messer und bevor sie es in einen Kürbis schlug, gerade als wir das Fenster schließen wollten grummelte sie:
Hey, ihr, damit operiert man Kinder mit Halsschmerzen.
Damals hatte ich jeden Monat einmal eine Halsentzündung und der Arzt riet zur Operation. Mein Großmutter – sie war Krankenschwester – bewahrte mich davor, und dank ihres Wissens überzeugte sie alle, dass eine Operation nicht nötig sei: Kinder bekommen Halsschmerzen, weil sie Angst haben, sagte sie. Kinder haben immer Angst, wir können ihnen doch nicht je nach Größe der Angst Körperteile entfernen, oder? Daraufhin träumte ich von einem schmerzenden Kopf, von dem man die Mandeln entfernt hatte, die Kehle, die Ohren, die Zähne, den Bauch ... Meine Großmutter war weise, und Doña Rosa, Carlitos’ Mutter – diese brutale Bestie, achte einfach nicht auf sie – gefiel ihr überhaupt nicht; nur rief sie großzügig mit den selben klugen Aussagen, die mit so mancher meiner Ängste aufräumten, neue, mich zu Tode erschreckende Fantasien hervor; das führt mich zu der Schlussfolgerung, dass es gar nicht um meine Großmutter ging, sondern um meine eigene, ergiebige Fähigkeit, Angst zu empfinden.
In einer dieser Nächte, die aus irgendeinem Grund alle gleich schienen und ewig dazu, schlief ich zusammen mit der Großmutter im Wohnzimmer, klammerte mich an sie, dass es ihr fast wehgetan haben muss. Ich hatte die Übertragung eines Mannes im Fernsehen gesehen, der in einer anderen Welt umherlief, eines Mannes, der die ersten Schritte auf dem Mond tat. Sie zogen die Vorhänge im Wohnzimmer auf und zeigten nach oben, dort, siehst du? Dort oben läuft ein Mann herum, ganz lautlos.
Es herrschte eine seltsame Glückseligkeit, eine Glückseligkeit, die ich nicht verstand, ausgelassen waren die Oliven essenden Münder, ausgelassen wurde zur Ruhe gemahnt, das Fernsehbild eingestellt, ausgelassen wurde das transparente Antennenkabel ausgerichtet.
Wir aßen Pizza; Pizza, die es nur zu festlichen Anlässen gab, man holte sie mit dem Auto von der Hauptstraße oder vielleicht fuhren sie auch bis nach Haedo, etwas weiter entfernt, etwas dichter bevölkert, etwas näher an der Kindheit meiner Eltern; wie viele Mitfieberer an jenem Abend da waren oder wer sie waren, weiß ich nicht mehr, das Haus war jedenfalls voller Freunde, für mich alles unterschiedliche Arten von Onkeln und Tanten, dickere Onkel, dünnere Onkel, lustigere Onkel, langweiligere Onkel; liebevolle Tanten, zerstreute Tanten und Tanten, die mir Schamgefühle machten, wie jemand, der einem etwas gibt, der dich nötigt, etwas aufzubewahren, obwohl du gar nicht weißt, wie oder wo; und ich, ganz gehorsam, aß, trank, hielt pflichtbewusst an dem Schamgefühl fest, und weil ich nicht wusste, wohin damit, ging ich ziellos umher, nervte und hielt überall Ausschau.
Die Pizza wurde in einer Schachtel gebracht, die mit einem Baumwollfaden zusammengehalten wurde, so straff gespannt wie Gitarrensaiten; auf der runden Schachtel aus dickem Styropor fielen mir die wie zufällig verstreuten kleinen blauen, roten und gelben Pünktchen auf. Normalerweise zerrieb ich solche Verpackungen in meinen Fingern und hortete die kleinen Kügelchen, ich stopfte sie in irgendein Fläschchen und manchmal zerquetschte ich sie mit den Zähnen und hörte sie quietschen in meinem Mund mit ihrem feinen, tristen, zu Ende gehenden Stimmchen, dann schluckte ich sie hinunter und sagte niemandem etwas und wartete darauf, dass irgendetwas Schreckliches geschehe; dieses Schreckliche hatte aber nie etwas mit Tod zu tun, das Schreckliche der Kindheit ist eher eine besondere Form der Verlassenheit.
Die Pizza war heiß und vielleicht war sie sogar noch besser als damals das Wasser aus der Leitung.
In jener Nacht kam die Großmutter nicht nach Hause; jene Nacht gehörte dem Mond, dem Fernseher und dem Teleskop; die Großmutter kam dann am nächsten Tag, sie durchquerte die Stadt in sintflutartigem Regen, einem Regen wie heute, mit Wassermassen, die alles überfluten, einem Regen, der, lange, bevor er auf einen selbst herabstürzt, den Geruch nach nasser Erde bringt, der die Erinnerung an den Duft von Wiesen herbeiträgt und an die tatsächliche Farbe der Bäume. Durch den namenlosen Mann im Mond und einen Himmel, der Stück für Stück herunterfiel, hatte sich meine Angst beträchtlich vergrößert und mich regelrecht überflutet: Meiner Großmutter, der weisen Krankenschwester, vertraute ich den ersten Anfall von Entsetzen an; kaum dass ich sie sah, warf ich mich in ihre Arme und begann zu zittern.
Ahh, das Schwarz ...
Ich schlief zusammen mit der Großmutter im Wohnzimmer, klammerte mich an sie, dass es ihr fast wehtun musste. An den Großmuttertagen wurde immer ein provisorisches Bett gegenüber dem großen Fernseher aufgebaut. Im Dunkeln war das in das Zedernholzmöbel eingebaute Gerät ein schwarzer Spiegel, der die Bewegungen präziser erfasste als ein Schatten. Von meinem Zimmer wollte ich nichts wissen, auch nichts von den Telerins, die wir Figur für Figur mit großen Taschen- und Halstüchern zugedeckt hatten.
Wir sollten sie abhängen, sagte Mamá.
Nein, sie sollten nur nicht schauen, sagte ich.
Eine Geisterfamilie, der Größe nach aufgehängt an der cremefarbenen Wand eines Kinderzimmers, eines verlassenen Kinderzimmers in einem Landhaus mit spitzem Dach, in einem Mittelschichtviertel, in dem die Grundstücke hinter den Häusern mit den alten, weit entfernten Bäumen des nächsten Gebäudes verschmelzen, dunkle und verlorene Grundstücke in einem westlichen Randbezirk von Buenos Aires. Ich hatte die Übertragung eines Mannes im Fernsehen gesehen, der in einer anderen Welt umherlief, eines Mannes, der die ersten Schritte auf dem Mond tat. Eines Mannes, der immer noch ein Mann war, selbst an einem Ort, der nicht die Erde war.
In der Nacht, die auf jene Nacht folgte, machte ich vielleicht zum ersten Mal die Erfahrung von Schlaflosigkeit. Jene Nacht bietet jedenfalls die Möglichkeit einer Erinnerung. Gut möglich, dass es nicht wirklich die erste Nacht war, aber es ist die Nacht, die ich nicht vergesse. Die Telerins mit ihren schwarzen Pupillen auf weißem Grund oder der große Fernseher als schwarzer Spiegel in der Nacht müssen in all den Nächten die einzigen, unwirklichen Zeugen all dessen gewesen sein, was ich vergessen habe.
Stumme Zeugen, wie der erstickte Schrei in der Nacht des Lichtblitzes, als das Leuchten immer intensiver wurde und mit einem Mal den ganzen Raum einnahm bis es all seine Formen verschlang und ihm Wände, Bett, Fenstersims, Gegenstände nahm und mich mit etwas konfrontierte, das ich immer noch nicht näher benennen kann, und das sich langsam auf mich zu bewegte und immer größer wurde, solange das Leuchten anhielt, und das immer dunkler wurde, ohne Augen, ohne Stimme, ohne Hände.
Die Schlaflosigkeit dieses Mädchens, das mir mit vier Jahren abhandengekommen ist, ist der Schlaflosigkeit der Frau, der Erwachsenen, die in der heutigen Regennacht schreibt, nicht unähnlich; denn obwohl sie sich nicht erkennen, lebt das Mädchen doch weiter, abhandengekommen, stumm, gefangen in dem tiefschwarzen Zwischenraum, der sich zwischen den Gestirnen ausbreitet, ganz wachsam gegenüber dem, was sich da nähert, wie um sie zu holen, sie mitzunehmen, ihr in einer Sprache aus einer anderen Welt ein Geheimnis ins Ohr zu flüstern: eine ganz private Nachricht, ganz leise geflüstert, damit die anderen, die friedlich schlafen oder komplizierte Träume von der anderen Seite der Geschichte träumen, nicht aufwachen.
Das Schwarz um die Astronauten herum, das Gesicht des Mädchens, aufmerksam und neugierig, wie es sich im Fernseher spiegelt, die Augen und Münder anderer, die sich im Mond widerspiegeln, in der unermesslichen Weite eines dunklen Himmels, schwarz und weiß wie versilbert, eine Kulisse, die noch dichter ist als die Baumallee bei Nacht.
In der Dunkelheit hat das Mädchen aus dem Blickwinkel noch andere Augen gesehen: meine, die nichts anderes als ihre sind, die sie betrachten von einem im Fernsehen übertragenen Mond aus, wie aus einem dunklen, fast schwarzen Spiegel heraus; und als das Mädchen das Schwarz des Bildschirms betrachtet, weiß sie nicht wie, wie sehr und wann sie selbst betrachtet wird.
Die Angst aber hat auch etwas Trauriges, denn mit diesem Mond, den sie jetzt aus so großer Entfernung sehen, mit diesem Mond, der so unmöglich mitten ins Wohnzimmer platziert wurde und der so weit entfernt ist von diesem anderen Mond mit der Wasseraura oben im Himmel, mit diesem neuen, seltsamen Mond verschwand der zusammen mit dem Vater mit neugierigem, ins Unendliche gerichtete Blick betrachtete Mond; das war nicht mehr der Mond, den das Teleskop näher herangerückt hatte und der nicht zuließ, dass man wirklich etwas sah; er gab keine Details preis, keine Gewissheiten, denn mit dem Vater zusammen den Mond zu betrachten, das hieß, das Geheimnis des Mondes zu schätzen und zu bewahren; jetzt aber, mit diesen Augen, in die sich Raumanzüge mischen, auf diesem heidnischen Mond, sieht das Mädchen Schatten, Asche, Schamhaftes, Spuren, Flaggen, Pizza essende Onkel, verhüllte Männer ohne Augen und Münder. Auch diese ihr so sehr zu eigenen Augen sieht sie, die die Dunkelheit und Traurigkeit herausgerissen haben – denn diese mir so sehr zu eigenen Augen blieben die des Mädchens, des abhanden gekommenen Mädchens, das auch mich ansieht, erschreckt, als wäre ich eine andere.
Am nächsten Tag stahl Carlitos den Deckel der Pizzaschachtel aus unserem Müllsack, den Deckel der Pizza, die wir ein paar Tage zuvor gegessen hatte; eklig war der Deckel, nicht einmal abgewaschen hat er ihn; schmierige Käsereste hingen daran, irgendetwas undefinierbares Dickes, Matschiges; was einmal so gut eine so gute Pizza geschützt hat, war jetzt eine Dreckschleuder, die die Luft mit Dreck, Käse, Fäden und Pfützenwasser verschmutzte; Carlitos warf den Deckel durch die Luft und machte aus ihm eine fliegende Untertasse, die ein Tempo entwickelte, das einem den Atem stocken ließ und einen zwang, sich in Windeseile wegzuducken. Von der Mitte des Blocks aus, wo mein Haus an seines grenzte, wirft Carlitos geschickt das dreckige, runde, Hals und Gesicht bedrohende Ding, anmutig fliegt es bis zur Ecke, knallt gegen die Fensterscheibe des Ladens und Carlitos kreischt: Hey, Betty, das kommt vom Saturn, vom Saturn kommt das, Betty!
Und Betty kam aus dem Laden, es dauerte solange, wie es eben dauerte, bis sie von der Fußbank gestiegen war, als ob sie hinkte, und hinter dem Vorhang aus braunen, gelben und grünen Plastikstreifen auftauchte, stückweise tauchte sie auf, zuerst die dicke Hand, dann der Fuß mit dem flüchtigen Zeh und ganz am Schluss das breite, großaugige, von einer mehrfarbigen, langen Mähne umrahmte Gesicht.
Ach wirklich, vom Saturn also ...?,
und sie sah mich dabei an, mich, nicht ihn, den dreckigen Carlitos, den Sohn der Hühnermörderin.
Na gut, Mädchen, dann weißt du also, woher sie kommen; nur was man nie weiß, ist, wohin sie gehen.
Und wieder verzog sie den Mund, rümpfte sie die Nase, sah mich an und ignorierte Carlitos so konsequent, als würde er gar nicht existieren, als wäre er unsichtbar für sie und nur für mich nicht aus Luft.
Wo sie hingehen? Diese beängstigende Vorstellung war mir gar nicht gekommen, und auch wenn es schrecklich war, dass Betty vom Saturn stammte, so war der Saturn doch zumindest ein Name, auf den ich am Himmel zeigen konnte, im Mai, Richtung Norden, und nicht nur das, er war etwas, das ich mit dem Teleskop ausfindig machen konnte, mit seinen komischen Ringen, himmlischen Lichtquellen, er war etwas, das mich meinem Vater wirklich näherbrachte und das in diesem intimen, einzigartigen Moment auf perfekte Weise das Tor zur Einsamkeit des Himmels und der Sterne öffnete; so erwuchs in mir, während ich mich durch das Teleskop mit dem Ende der Welt vertraut machte, eine frühe Form von Exil, und in solchen Momenten vergaß ich, dass ich noch ein kleines Mädchen war:
Ich pures Auge,
Ich Planet;
Ich Mond
Ich Schwarz
Ich Saturn


Ich Betty.
Betty, das wusste ich, war aus mir entstanden, war eines Nachts aus mir herausgekommen, in einer Nacht ohne Erinnerungen, einer Nacht ohne Augen; ich Mond, ich Saturn, ich Betty mein Zeh auf der Flucht.
Also lief ich, noch ohne Großmutter, nach Hause, ließ Carlitos stehen, und stellte mich auf ein Fußbänkchen, als ob ich hinkte, um den Badezimmerspiegel zu erreichen und mir ins Gesicht zu sehen und zu sehen, wer ich war: ob ich, ob Saturn, Betty, oder was auch immer Gesichtsloses.
Das Gefühl von Verlassenheit, nicht zu wissen, wer man ist, hat etwas Tiefschwarzes, etwas Schwarzes wie die tiefe Dichte, die sich zwischen den Gestirnen auftut. Und deshalb wird zwischen dem Leuchtenden und dem Leuchtenden in dem tiefen Zwischenraum geboren, was keinen Namen hat, das Schwarze, dieser Ort, zu dem, wie ich vermutete, die hingehen würden, die mich holen kamen; damals wusste ich noch nicht – und heute vergesse ich es manchmal – dass ich selbst es bin, die immer wieder aus dem tiefsten Schwarz heraus kam, kommt und wiederkommt, um mich zu holen und mich mitzunehmen, wohin auch immer.




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Aus dem Buch:
La sombra del animal von Vanesa Guerra. Verlag Bajo La Luna, 2008, Buenos Aires, Argentinien.Primer Premio Libro de Cuentos por el Fondo Nacional de Las Artes (Erster Preis in der Kategorie Erzählung des argentinischen Kunst- und Kulturfonds), Argentinien, 2007. Seiten. 85-94.





dr. elephant

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